Praxis

Förderung bei Rechenschwäche für Jugendliche und im Erwachsenenalter

Es gehört mit zu den schwierigsten Anforderungen in einer lerntherapeutischen Praxis, ältere Jugendliche und Erwachsene mit einer Rechenschwäche zu fördern. Sowohl die emotionalen als auch die curricularen Besonderheiten unterscheiden diese Gruppe von den jüngeren Kindern und erfordern ein komplizierteres diagnostisches und therapeutisches Vorgehen. Diese Klientengruppe ist durchaus groß und stellt eine gesellschaftlich relevante Risikogruppe dar.




Probleme der Jugendlichen

Bezogen auf die Gruppe der Jugendlichen zeigten die PISA-Erhebungen, dass 20-25% der Fünfzehnjährigen in der BRD lediglich Fähigkeiten auf der Kompetenzstufe I haben. Das bedeutet, dass Sie höchstens Fragen in vertrauten Kontexten beantworten können, bei denen „alle relevanten Informationen gegeben und die Fragen klar definiert sind … sowie Routineverfahren in unmittelbar zugänglichen Situationen anwenden“. Sie sind allerdings kaum in der Lage, typische mathematische Aufgaben für Ausbildungsplatzbewerber zu lösen und es ist zu erwarten, dass diese Heranwachsenden mit hoher Wahrscheinlichkeit große Probleme in ihrem weiteren Ausbildungs- und Berufsleben haben werden. In der Hauptschule gehören etwa 50% der Schülerinnen und Schüler zu dieser Gruppe.

Die Problematik zeigt sich bereits zu Beginn der Sekundarstufe. Hier fallen betroffene Schülerinnen und Schüler auf, weil sie

  • generell ein mangelndes Verständnis der Grundschulmathematik unabhängig vom IQ haben,
  • über kein Verständnis zweistelliger Zahlen verfügen,
  • die Zahlwortreihe und das Zählen nur mangelhaft beherrschen (Rückwärtszählen ab 103 gelingt nur rund 60%, Vorwärtszählen ab 53 in Zehnerschritten nur 50%),
  • große Defizite in der Rechenfertigkeit im Zahlenraum bis 20, insbesondere beim Halbieren zeigen,
  • in Sachsituationen kein Operationsverständnis zeigen, wobei insbesondere ca. 90% der betroffenen Schülerinnen und Schüler keine tragfähige und flexible Grundvorstellung für die Division aufgebaut haben.

Diese Problematik setzt sich in der gesamten Sekundarstufe fort und bleibt ohne lerntherapeutische Hilfe meist bis zum Ende der Schulzeit bestehen. Die Herausforderung bei der lerntherapeutischen Arbeit besteht darin, die Schülerschwierigkeiten und -fehler zu analysieren und ihren Ursprung zu erkennen. Schülerfehler sind in hohem Maße „systematisch“, d.h. sie sind aus der Sicht der Schülerin bzw. des Schülers subjektiv korrekt, ihnen liegt eine Regelhaftigkeit zugrunde, sie haben also eine „verborgene Rationalität“, die durchaus kognitiv anspruchsvoll und aufwendig sein kann. Die Fehler entstehen oft aufgrund fehlenden Basiswissens, mangelnder Kompetenzen aus früheren Lernprozessen. In der Regel fehlen tragfähige Grundvorstellungen zu wesentlichen mathematischen Begriffen, z.B. Bruch, Dezimalbruch, Prozent.

Insbesondere ist bei betroffenen Schülerinnen und Schülern das Verständnis des Stellenwertsystems eingeschränkt. Das betrifft die Einsicht in das dekadische Positionssystem, das damit verbundene Bündelungsprinzip und die Notation einer Zahl als Summe von Vielfachen von Zehnerpotenzen entsprechend der Zerlegung dieser Zahl in Bündelungseinheiten. Ebenso mangelhaft entwickelt sind das Verständnis der Grundrechenarten im Sinne des Teil-Teil-Ganzen-Konzepts, die Abrufbarkeit der Basisfakten (Kenntnisse der Grundaufgabengleichungen1), die Arbeit mit diesen Fakten beim Lösen von Aufgaben wie 27 + 38 oder 13 • 7 auf dem Niveau von Fertigkeiten, die flexible situationsgebundene Anwendbarkeit von mathematischen Verfahren und die Einsicht in deren Sinnhaftigkeit.

Eine Förderung kann nur gelingen, wenn sie von den Schülerfehlern ausgeht und diese konstruktiv nutzt. Das setzt voraus, die Schülerfehler in deren Erscheinung und ihrem Wesen, also den ihnen zugrunde liegenden Denkwegen zu kennen!

Probleme der Erwachsenen

Es werden Erwachsene mit einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie (DD, „developmental dyscalculia“) unterschieden von Erwachsenen mit einer Akalkulie, welche durch ein zerebrale Verletzung (Trauma, Embolie, Schlaganfall, etc.) hervorgerufen wird, nachdem (!) schon mathematische Kompetenzen entwickelt worden waren.

Bei einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie wird von einer lebenslangen Lernbeeinträchtigung ausgegangen, wenn nicht eine zielgerichtete, spezielle Therapie vorgenommen wird.

Bei Erwachsenen mit einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie sind folgende Kennzeichen zu beobachten:

  • Geringerer „subitizing range“ (nur 3 Elemente können simultan wahrgenommen werden statt wie normalerweise 4 Elemente)
  • Geringere (langsamere, ungenauere) Fähigkeit, unstrukturierte Punktmengen zu erfassen und deren Anzahl zu bestimmen
  • Notwendigkeit, auch bei einfachen arithmetischen Aufgaben Hilfsmittel (z.B. Finger) zu verwenden
  • Damit einhergehend: Zeitaufwand und Fehleranfälligkeit, hoher Gedächtnisaufwand
  • Faktenaufruf häufig erschwert bzw. nicht vorhanden, außer bei schlichter Gesetzmäßigkeit (n+1, n+0, n•1, n•0).
  • Massive Schwierigkeiten mit basalen arithmetischen Konzepten (Dezimalsystem, Brüche und Dezimalbrüche, etc.)
  • Schwierigkeiten bei der Größenart „Zeit“, nicht hingegen bei Längen (oder bei der Gesichtserkennung); dies wird auch interpretiert als Beleg für die Verbindung zeitlicher und nummerischer Dimension.

Eine entwicklungsbedingte Dyskalkulie hat bei Erwachsenen weitreichende Folgen:

  • Da es sich um eine permanent bestehende und erlebte Lernschwierigkeit handelt, sind die emotionalen Auswirkungen beträchtlich: Über einen langen Zeitraum hat sich das Selbstbild, eine „(Lern-)Behinderung“ zu haben, manifestiert.
  • Die kumulierten arithmetischen Defizite beeinträchtigen die Berufsausbildung und lassen angestrebte Berufe als nicht erreichbar erscheinen.
  • Damit gehören die Erwachsenen mit entwicklungsbedingter Dyskalkulie zu der Gruppe mit (sehr) niedrigem Einkommen.
  • Aufgrund der langfristigen Misserfolgsbiographie (bzgl. Mathematik) ist die Motivation sehr gering, sich einer Förderung zu unterziehen, da sie als aussichtslos angesehen wird (Misserfolgsorientierung).

Dies hat insgesamt weitreichende Konsequenzen für die Förderung. Die Förderung stellt sich aus diesem Grund als schwierig und zeitaufwendig dar. Die Förderung muss zwingend auf zwei Ziele in Einheit verfolgen: Ein Ziel ist die der Stärkung der Motivation und die Veränderung des Selbstkonzeptes und das zweite Ziel ist das Meistern der nicht beherrschten curricularen Inhalte, die Entwicklung mathematischer Kompetenzen.

„Stärkung der Motivation“ sagt sich leicht, ist aber bei Erwachsenen mit DD ausgesprochen schwierig zu erreichen. Einerseits stellt ihre Selbsterfahrung ein enormes Hindernis dar, andererseits sind sie, wenn sie denn in die Förderung kommen, daran interessiert, an ihrer Beeinträchtigung etwas zu ändern. Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit ist höher als bei Kindern, da der Leidensdruck als hoch erlebt wird. Allerdings liegen die curricularen Defizite (wie fast immer bei einer Dyskalkulie) im frühen Grundschulbereich, d.h. dem Zahlenraum bis 10 bzw. 100. Dies bedeutet aber, dass die für die frühen arithmetischen Operationen verfügbaren Grundschulveranschaulichungsmaterialen für Erwachsene nicht geeignet sind, sie werden als „kindisch“ abgelehnt. Dies betrifft insbesondere (v.a. männliche) Jugendliche im Alter von 17-20 Jahren (z.B. während der Berufsschulzeit) und natürlich ältere Erwachsene. Die Herstellung adäquater Materialien muss daher von der Therapeutin/dem Therapeuten selbst erstellt werden, da es sie im Handel nicht gibt. Denn auch für Erwachsene mit einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie gilt, dass die mathematischen Begriffe über Handlungen aufgebaut werden müssen. Hier können (anders als bei Grundschulkindern) mögliche Widerstände auftreten. Dies muss im Gespräch erklärt werden, d.h. die Förderung ist stets selbstreflektierend.

Die Förderung setzt eine intensive Diagnose voraus. Es müssen die Faktoren abgeklärt werden, welche die entwicklungsbedingte Dyskalkulie bewirkt haben, also auch schon in der Grundschulzeit vorhanden waren. Es ist eine ausführliche Anamnese zu erstellen. Möglicherweise ergibt die Diagnose, dass bestimmte neuronale/zerebrale Besonderheiten vorliegen (die damit einer Veränderung i.d.R. nicht zugänglich sind). Dann sind kompensatorische Zugänge erforderlich.

In der Diagnose muss nicht zuletzt auch geklärt werden, in welchen Bereichen der höchste Leidensdruck besteht, d.h. wo zuerst mit der Förderung begonnen werden muss. Dies ist motivational wichtig (dies gilt z.B. für Grundschülerinnen und Grundschüler nicht).

Einerseits sind verbale Aufmunterungen/Motivationen nicht so ergiebig wie bei Kindern, aber dafür muss die Auswahl der Aufgaben, die Planung der Förderung passgenau auf die erwachsene Person abgestimmt sein, damit diese selbst den Erfolg erlebt, auch wenn er nur in kleinen Schritten erfolgt (nichts schafft mehr Erfolge als der Erfolg!).

Erwachsene mit einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie geben ihre curricularen Defizite meist zu hoch an (Prozentrechnung, Algebra, etc.), sie thematisieren oft nicht vorhandene Defizite im Beherrschen von Inhalten der Grundschulmathematik. Dies macht es schwierig, diese relevanten (und meist unverstandenen) grundschulischen Inhalte in den Fokus der Förderung zu rücken.

Mehr als bei Grundschulkindern sind der Alltag und seine mathematischen Facetten in die Förderung einzubeziehen. Mathematik kann und sollte als strukturierende Hilfe des außerschulischen Lebens erfahrbar werden. Das ist nicht nur motivational günstig, sondern auch lernfördernd.

Nicht zuletzt: Eine Förderung von Erwachsenen mit einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie braucht sehr viel Zeit.

1 Grundaufgabengleichungen der Addition bzw. Multiplikation sind alle Gleichungen mit zwei Summanden bzw. Faktoren aus dem Zahlenraum bis 10. Grundaufgabengleichungen der Subtraktion bzw. Division sind die Umkehraufgaben von Grundaufgabengleichungen der Addition bzw. Multiplikation.

Über den Autor

Jens Holger Lorenz
Jens Holger Lorenz ist der wohl profilierteste deutsche Mathematikdidaktiker mit Forschungsschwerpunkt Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht. Er studierte Mathematik und Physik in Frankfurt (Main) und ist zugleich Analytischer Kinder- und Jugendtherapeut. Jens Holger Lorenz lehrte und forschte an der Universität Bielefeld, der PH Ludwigsburg, der PH Heidelberg und der Universität Frankfurt (Main).

Er ist Autor namhafter Veröffentlichungen, insbesondere zum Erwerb mathematischer Kompetenzen im Elementar- und Primarbereich, zum Thema Anschauung und Veranschaulichungsmittel sowie zu Fragen der Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht.

Jens Holger Lorenz war maßgeblich an der Entwicklung des Bereiches Mathematik der Studiengänge Bachelor und Master Integrative Lerntherapie beteiligt und gibt seine Erfahrungen in den Lehrveranstaltungen sowohl in Schwäbisch Gmünd als auch in Berlin weiter.

Zum Profil

Literatur

  • Aster, M.v. & Lorenz, J. H. (Hrsg.) (2013). Rechenstörungen bei Kindern. Göttingen: Hogrefe.
  • Dornheim, D. (2008). Prädiktion von Rechenleistung und Rechenschwäche: Der Beitrag von Zahlen-Vorwissen und allgemein-kognitiven Fähigkeiten. Berlin: Logos.
  • Einig, A., & Lorenz, J.H. (2009). Zahlbegriffsentwicklung im frühen Kindesalter – eine Fallstudie zur Entwicklung des mathematischen Denkens bei 3- bis 4-jährigen Kindern. Ein Projekt der Landesstiftung Baden-Württemberg in Kooperation mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung. Stuttgart: LfS.
  • Graf, U. & Moser Opitz, E. (2008). Diagnostik und Förderung im Elementarbereich und Grundschulunterricht. Hohengehren: Schneider.
  • Kaufmann, S. (2003). Früherkennung von Rechenstörungen in der Eingangsklasse der Grundschule und darauf abgestimmte remediale Maßnahmen. Frankfurt: Lang.
  • Kaufmann, S. & Lorenz, J. H. (2007). Förder- und Diagnosebox. Braunschweig: Schroedel.
  • Krajewski, K. (2003). Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. Hamburg: Kova?.
  • Krajewski, K. (2005). Früherkennung und Frühförderung von Risikokindern. In M. v. Aster & J. H. Lorenz (Hrsg.), Rechenstörungen bei Kindern (S. 150-164). Göttingen: Hogrefe.
  • Krajewski, K., & Ennemoser, M. (2013). Entwicklung und Diagnostik der Zahl-Größen-Verknüpfung zwischen 3 und 8 Jahren. In M. Hasselhorn, A. Heinze, W. Schneider & E. Trautwein (Eds.), Diagnostik mathematischer Kompetenzen. Tests und Trends. Neue Folge. Band 11 (pp. 41-65). Göttingen: Hogrefe.
  • Lambert, K. (2015). Rechenschwäche - Grundlagen, Diagnostik und Förderung. Göttingen: Hogrefe.
  • Lorenz, J. H. (2005). Diagnostik mathematischer Basiskompetenzen im Vorschulalter. In M. Hasselhorn, H. Marx & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik von Mathematikleistungen - Tests und Trends, Neue Folge Bd. 4 (S. 29-48). Göttingen: Hogrefe.
  • Lorenz, J.H. (2006). Förderdiagnostische Aufgaben für Kindergarten und Anfangsunterricht. In M. Grüßing & A.
  • Peter-Koop (Hrsg.), Die Entwicklung mathematischen Denkens in Kindergarten und Grundschule: Beobachten – Fördern – Dokumentieren (S. 55-66). Offenburg.
  • Lorenz, J.H. (2009). Diagnose und Prävention von Rechenschwäche als Herausforderung im Elementar- und Primarbereich. In A. Heinze & M. Grüßing (Hrsg.), Mathematiklernen vom Kindergarten bis zum Studium (S. 17-34). Münster: Waxmann.
  • Lorenz, J.H. (2012). Kinder begreifen Mathematik. (Reihe: Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit). Stuttgart: Kohlhammer.
  • Lorenz, J.H. (2013). Der Hamburger Rechentest 1-4 (HaReT 1-4). In M. Hasselhorn, A. Heinze, W. Schneider & U. Trautwein (Hrsg.), Diagnostik mathematischer Kompetenzen (S. 165-183). Göttingen: Hogrefe.
  • Lorenz, J.H. (2017). (mit Ch. Benz, M. Grüsing, Ch. Selter, B. Wollring). Zieldimensionen mathematischer Bildung im Elementar- und Primarbereich. In Stiftung Haus der kleinen Forscher (Hrsg.), Frühe mathematische Bildung – Ziele und Gelingensbedingungen für den Elementar- und Primarbereich. (Wissenschaftliche Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“, Bd. 8, S. 32-177). Opladen: Budrich. (Kostenfreier Download unter http://www.haus-der-kleinen-forscher.de/de/wissenschaftliche-begleitung/ergebnisse-publikationen
  • Lorenz, J.H. (2020). Mathematische Bildung. In J. Roos & S. Roux (Hrsg.), Das große Handbuch Frühe Bildung in der Kita (S. 261-273). Hürth: Wolters Kluwer.
  • Reichelt, J., & Lorenz, J.H. (2014). Evaluation eines mathematischen Förderprogramms. Zeitschrift für Grundschulforschung, 1/2014, 35-47.